Lesen im weitesten Sinne

Raulff
Berliner Zeitung;
27. September 2014

„Wir lesen den Text oft flächig. Wir überspringen, was wir nicht verstehen und lassen uns treiben in einem Strom von Bedeutungen. Dann wieder bleiben wir träumerisch an einem einzigen Wort hängen, denken ihm nach oder beginnen – sehr kontextfrei – zu assoziieren. Das passiert oft gerade an Stellen, die uns nicht klar sind. Da fasziniert uns das Buchstabenbild oder der Klang. Beides hat mit der Bedeutung nichts zu tun. Schon gar nicht mit der, die man in Lexika findet. Unlängst fand ich im Haus meiner Eltern ein Buch, das ich als Siebenjähriger weniger gelesen als durchfahren hatte. Es war ein Buch über den Bau des Panama-Kanals, über den Finanzskandal und über das Leben von Ferdinand Lesseps. Ich fuhr über den Text, auf und zwischen den Zeilen, hundert, zweihundert, dreihundert Seiten. Es störte mich nicht, dass es nur so wimmelte von Wörtern, die ich nicht verstand, auch dass ich weder eine Argumentation erkennen konnte, noch den Sinn des Ganzen. Ich fuhr begeistert weiter und weiter.“

Was wäre mir da entgangen, wenn ich nicht die Wochenendausgabe beim Kiosk gekauft hätte, als der Bote nicht aufgetaucht war! Dieses ganze Interview von Arno Widmann und Ulrich Raulff spricht mir ganz aus der Seele und beglückt mich rundum. Es gibt noch eine wunderbare starke Passage über das Lesen der Prawda. Bei uns erfüllt diese Funktion die Le monde diplomatique. Ja, die Presse, diese Schwester des Buches. Wir sollten alle ernsthaft überdenken, ob wir wirklich auf sie verzichten wollen und Konsequenzen ziehen, wenn die Antwort „nein“ ist.

Raulff_Siebziger
Klett Cotta

Zeitungslektüre

Jeden Morgen zum Frühstück überfliege ich – da passt das ausgewählte Zitat – die Berliner Zeitung von vorne bis hinten und denke dann, dass dieser oder jener Beitrag verdient, nochmal gründlich gelesen zu werden oder gar, dass ich ihn aufheben sollte. Am Sonntag bei nötiger Muße arbeite ich mich durch den Stapel, und von der Woche bleibt dann mit lauter anderem Treibgut beispielsweise ein Artikel wie dieser, den ich gerne teile, mit Angehörigen, Freunden, Interessierten, und damit auch appelliere: unterstützt die Schriftsteller jeder Art Presse! Buchbesprechungen finden zuweilen ihren Platz als „Kassiber“ in den passenden Büchern, und ich weiss, dass dies seit Generationen andere getan haben.  Auf der Webseite der Berliner Zeitung ist der Artikel (noch) nicht zu finden, aber aus dem gleichen Hause kommt die Frankfurter Rundschau, und die bringt das volle Interview, und abermals: wir sollten Ihr dafür dankbar sein. Doch wenn wir die e-Version lesen, sollten wir uns daran erinnern: bisher habe ich noch keine I-Phones oder Laptops mit den Stellen im Buch eingelegt gefunden.

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C. H. Beck

Bücher lesen

Vorrätig von Ulrich Raulff ist sein Buch zur George-Jüngerschar: Der Kreis ohne Meister, erschienen bei C. H. Beck. Das ist auch eine anregende Lektüre und geht auf eine ganz andere Art auf das Thema ein, welche Rolle das geschriebene – und hier auch, das gesprochene – Wort in unserem persönlichen und gesellschaftlichen Leben spielt. Was mich bei der Lektüre faszinierte ist, wie Raulff am Beispiel der George-Fans aufzeigt, welch unterschiedlichen Geistes Menschen sein können, die einer Persönlichkeit und einer großen Idee anhängen – wenn dies auch kein neuer Gedanke ist. Das ungewöhnliche Titelbild – mal nicht der ewige George im Profil mit gebieterischer Miene und prächtigem Haupthaar – ist ein Indiz. Das Buch ist ein starkes Plädoyer gegen Vorurteile und ein Anstoß, eigene Motive und Vorlieben zu hinterfragen. Ja, das kann Literatur leisten! Dazu kommt, wie Sie vielleicht im Zitat oben schon erkannt haben, dass Raulff ein lebendiger und anregender Erzähler ist. Jetzt bin ich gespannt auf das Buch Wiedersehen mit den Siebzigern von Raulff, um das es hier geht und das gerade bei Klett Cotta erschienen ist.

 

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